Absenz und Präsenthaltung

Organisatoren
Friederike Nüssel (Ökumenisches Institut Heidelberg) / Romedio Schmitz-Esser (Universität Heidelberg)
Ort
digital (Heidelberg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.07.2021 -
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Von
Jennifer Siebel, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die virtuelle Tagung wurde von FRIEDERIKE NÜSSEL (Heidelberg) und ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Heidelberg) organisiert. Schon ihr digitales Format zeige, so Schmitz-Esser in seiner Begrüßung, die Aktualität der Herausforderungen von Absenz im (virtuellen) Raum, die sich in komplexer Weise auch in vielfältigen Bereichen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit finden ließen.

Wo eine Absenz wahrgenommen werde, entstehe häufig der Wunsch nach (Wieder-)Herstellung einer präsentischen Praxis – ob und inwieweit man diese Präsenthaltung durch materielle oder rituelle Substitute leisten könne, sollte anhand der einzelnen Beiträge gezeigt werden. Referent:innen der mittelalterlichen Geschichte, Kunstgeschichte und Theologie waren der Einladung nachgekommen, um Chancen wie Probleme der Absenz und Präsenthaltung zu betrachten. Im Fokus stand hierbei die Frage nach dem konkreten Ort der Präsenthaltung und den Dimensionen der Absenz. Die Tagung sollte so diese neue Fragestellung auf ihr Potenzial prüfen und für den interdisziplinären Diskurs öffnen.

Mit seinem Vortrag eröffnete Schmitz-Esser sodann die Tagung inhaltlich. Die Begriffe „Präsenz“ und „Repräsentation“ seien bereits seit Jahrzehnten in der Mediävistik etabliert und gerade in der deutschsprachigen Forschung vor allem im herrschaftlichen Kontext, auf weltlicher und geistlicher Ebene, betrachtet worden. Umso gehaltvoller sei die neue Fragestellung nach dem der Tagung zugeschriebenen Begriffspaar von „Absenz“ und „Präsenthaltung“. In seiner Darstellung zu materiellen Symbolen herrschaftlicher Repräsentation im Mittelalter betonte Schmitz-Esser das Potenzial einer neuen Perspektive auf die Mensch-Objekt-Beziehung anstelle der klassischen top-down-Betrachtungen innerhalb der sozialen Sphäre. Auch hebe Repräsentanz keineswegs Absenz de facto auf, vielmehr werde diese ihrerseits inhärent präsent gehalten. Präsenthaltung als solche sei prozesshaft und könne so neben der erwünschten Präsenz auch einen Diskurs, ein Versprechen oder die Hoffnung auf eine Präsenz konstituieren. Wie die Produktivität einer solchen Präsenthaltung auch aussehe, sie sei es in jedem Fall Wert von der zukünftigen interdisziplinären Forschung ungeachtet zeitlicher und geographischer Grenzen näher betrachtet zu werden.

TOBIAS FRESE (Heidelberg), Teilprojektleiter am SFB 933 „Materiale Textkulturen“, beschäftigte sich bereits ausführlich mit dem Begriff der „Präsenz“. In seinem Vortrag wandte er sich jedoch keinem irdischen Herrscher, sondern der Präsenz Jesu Christi in einer außergewöhnlichen Miniatur im Sakramentar Heinrichs II. zu. Völlig singulär sei es, dass das Bild des Heiligen Grabes in dieser Handschrift direkt vor dem Text des Messkanons platziert wurde. Bei dieser Ikonographie werde nun einerseits die Verkündigung der Auferstehung, andererseits aber auch die physische Absenz Christi zum Thema gemacht („non est hic“). Und doch zeuge das Mausoleum in seiner monumentalen und farbenreichen Darstellung selbst von der Gegenwart Jesu Christi. Die so geschaffene Präsenthaltung in der bildlichen Darstellung der Miniatur lasse sich durch die zeitgenössische Wahrnehmung des leeren Heiligen Grabes als christlichen „Sehnsuchtsort“ im Mittelalter trefflich nachvollziehen.

JÖRG PELTZER (Heidelberg) betrachtete am Beispiel von Richard von Cornwall, jüngerer Bruder König Heinrichs III. von England, Earl von Cornwall und seit 1257 römisch-deutscher König, die Stellvertretung des Herrschers bei dessen Abwesenheit vom Königreich oder bei Thronvakanz. Der Blick auf die Regierungszeit Heinrichs III. und deren Ränder zeige, dass die Stellvertretung ad hoc entschieden wurde. Zu Lebzeiten des Königs lag die Entscheidungsgewalt bei ihm, bei einer (de facto) Vakanz entschieden darüber die Magnaten, es sei denn der König hatte für diesen Fall bereits Vorsorge getroffen. Eine Institutionalisierung der königlichen Stellvertretung in Form eines fest mit einer fürstlichen Würde oder einem Hofamt verbunden Vikariats habe nicht stattgefunden, auch wenn Ansätze dazu von Simon de Montfort entwickelt wurden. Im römisch-deutschen Reich hingegen sei es in der Regierungszeit Richards zur Ausformung eines solchen Amts gekommen. Treibende Kraft war der Pfalzgraf bei Rhein, Ludwig II., mit dessen fürstlicher Würde das Vikariat fürderhin verbunden gewesen sei. Die Gründe, so Peltzer, für diese unterschiedlichen Entwicklungen lagen nicht nur im persönlichen Scheitern Simon de Montforts, also auf der individuellen Ebene, sondern auch in strukturellen Unterschieden der beiden Königreiche hinsichtlich ihrer Monarchiemodelle und Repräsentationsformen der communitas regni.

Die Präsenz des Königs als Mittel zur Akzeptanz in der Amtsführung am Beispiel des französischen Königs Karls V. (1364–1380) war das Vortragsthema von MICHAEL BRAUER (Salzburg). Verwaltungsinnovationen, so Brauer, seien häufig mit symbolischen Handlungen verbunden, die die königliche Präsenz über dessen Physis hinaus sicherstellen sollten. Karl V. konnte seine herrschaftliche Präsenz als Governance-Instrument in Form von Eiden und rituellen Wahlen, „en presence du roy“ oder stellvertretend, gegenüber seinen konkurrierenden Governance-Akteuren, wie etwa Kron- oder Kriegsrat, durchsetzen. Ziel war es, durch die Wahl und Vereidung von hohen und auch niederen Amtsträgern, die ihrerseits nicht zu Governance-Akteuren werden sollten, einen funktionalen Schwurkörper zu schaffen. Die Wirkungsmacht seiner königlichen Unterschrift als visueller, zumal eigens und physisch angefertigter, Präsenzmarker in Briefen zeige zudem den unmittelbaren königlichen Willen in herrschaftlichen Verwaltungsdokumenten. Die grundlegende Herausforderung in den Governance-Strategien König Karls sei gewesen, sich auch bei Abwesenheit im alltäglichen Verwaltungshandeln durch diese Mittel kontinuierlich präsent zu halten.

Keine Stadt sei im mittelalterlichen Lateineuropa in stärkerem Maße präsent gehalten worden als Jerusalem, welches besonders absent, da häufig schwer zugänglich war – so eröffnete NIKOLAS JASPERT (Heidelberg) seinen Vortrag. Bei der Frage, wie sich die Präsenthaltung denn vollzöge, beleuchtete er drei zentrale Medien: Sowohl Architektur, die durch ihre Repräsentanz das Heilige Land oder spezifischer das Heilige Grab evoziere, als auch Reliquien, durch die eine Realpräsenz des Heiligen vor Ort entstehe, und letztlich deren Inschriften. Letztere erlaubten es, die heiligen Orte anhand der Reliquien aufzusuchen, bzw. umgekehrt würden die Orte durch die Reliquien präsent gemacht – und gehalten. In den sogenannten Kreuzfahrerstaaten seien eine erstaunliche Anzahl geistlicher Einrichtungen entstanden, die stark auf diese Prozesse einwirkten. Die Nutzung von authentifizierten Artefakten für performative Akte im öffentlichen oder halböffentlichen Raum sowie liturgische Feierlichkeiten seien maßgeblich an einer regelmäßigen, ritualisierten Präsenthaltung samt deren Aktualisierung beteiligt. Das Absente werde hier durch Performanz und Materialität noch deutlicher präsent gemacht als bei allen zuvor vorgestellten Medien. Diese von Gemeinschaften ausgeführte Form liturgischer Performanz, die beanspruche, diese Aufgaben auch im Heiligen Land zu erfüllen, stelle, so betonte Jaspert, eine exzeptionelle Sonderform von Absenz und Präsenzhaltung dar, der es sich in Zukunft noch mehr zuzuwenden gelte.

ALICIA LOHMANN (Heidelberg) stellte herrschaftliche Absenz samt ihren Facetten, Problemen und Chancen am Beispiel Kaiser Friedrichs III. vor. Auch für den Habsburger spielten Mandate, Reskripte, Delegaten sowie Herrschersymbole in Bildern und Objekten eine zentrale Rolle in der Repräsentanz, wenn der Kaiser auf Fernreisen – etwa nach Italien oder Jerusalem – unterwegs war. Die promovierende Alicia Lohmann konnte an Forschungsleistungen von Romedio Schmitz-Esser sowie Carola Fey und Karl-Heinz Spieß anknüpfen, indem sie die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand, Ertrag und Folgen der Absenz des Herrschers bei Fernreisen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte. Die Faszination einer Pilgerfahrt etwa erzeuge eine Präsenz in Form des Wunsches nach einer erfolgreichen Reise und Ankunft sowie der gesunden Rückkehr des Herrschers. Eine bewusste Inszenierung der Abreise könne so bereits vor der eigentlichen Absenz erinnerungsstiftend wirken. Performative, materielle und schriftliche Zeugnisse rund um die Reise hielten das Erlebte weit über diese hinaus präsent. Als besondere Überlegung betonte Lohmann schließlich, dass Präsenthaltung nicht nur als Prozess nach außen gedacht werden solle, sondern auch nach innen wirke. Dies zeige etwa das persönliche Notizbuch Friedrichs mit seinen Ritterschlagslisten, welches das Ereignis und alle Anwesenden am Heiligen Grab für den Kaiser selbst präsent hielt.

Über drei Quellen näherte sich ANJA RATHMANN-LUTZ (Basel) der Präsenthaltung Ludwigs IX. von Frankreich an. Auch sie bezog sich auf die zeitgenössische Kritik am physisch absenten Herrscher und Strategien der Präsenthaltung am Beispiel des Kapetingers. Zunächst zeigte sie auf, wie in Jean de Joinvilles Livre des saintes paroles et des bons faiz nostre saint roy Looÿs (1309) die Präsenthaltung Ludwigs durch die Schilderung von Körperlichkeit, d.h. seiner Präsenz durch Anwesenheit und Auftreten, durch Berührungen, aber auch detailliert seiner Kleidung, erreicht werde. Jeans Text sei geprägt von Emotionen und der persönlichen Beziehung zwischen den beiden. So erzeuge sie ein Narrativ der – auch körperlichen – Intimität, das dazu beitrage, alle Misserfolge oder Versäumnisse Ludwigs positiv umzudeuten, um diesen als erfolgreichen Herrscher präsent zu halten. Etwas später, in den 1330er-Jahren, nahmen, so Rathmann-Lutz, drei Handschriften für Jeanne II de Navarre (eine Kopie von Jeans Text, eine Kopie der Vie et miracles de saint Louis des Guillaume de Saint-Pathus, vor 1307, und das Stundenbuch der Jeanne II de Navarre) das von Jean geprägte körperbetonte „Präsenzmodell“ auf und zeigten Ludwig in Text und Bild als „öffentlichen“ und präsenten König. Zum lebenden Ludwig komme hier noch der König als Imagination oder Vision, gleichsam als Verkörperung seiner selbst hinzu sowie die Auffassung Ludwigs als Reliquie, eine Praxis der Präsenthaltung, die sich in den wenigen Jahren seit seiner Heiligsprechung bereits etabliert gehabt habe.

Organisatorin Friederike Nüssel erweiterte die Betrachtungen der Tagung durch eine theologische Perspektive auf die Frage nach Absenz und Präsenthaltung. Diese werde vor allem in der Lehre von den Sakramenten, speziell der Frage nach der Präsenz Jesu Christi in der Eucharistie bzw. im Abendmahl, relevant für die mittelalterliche und reformatorische Theologie. Seit dem ersten Abendmahlsstreit im Mittelalter zwischen Radbertus und Ratramnus werde über symbolische versus reale Präsenz Jesu Christi in der Eucharistie gestritten. In der Reformationszeit sei seit den 1520er-Jahren in der Diskussion zwischen lutherischen und reformierten Theologen über real-leibhaftige Präsenz Jesu Christi im Abendmahl oder eine symbolische Vergegenwärtigung die Frage in den Vordergrund getreten, wie Gott in seiner Unendlichkeit und Unermesslichkeit in der endlichen Natur eines Menschen gegenwärtig werden könne und wie sich umgekehrt die menschliche Natur von der göttlichen Präsenz durchdringen lassen könne, ohne ihr Menschsein zu verlieren. Im frühen 17. Jh. habe sich die Frage in einem innerlutherischen Streit zwischen den Fakultäten Gießen und Tübingen fortgesetzt, der als Kenosis-Krypsis-Streit in die Theologiegeschichte eingegangen und 1624 durch ein sächsisches Gutachten geschlichtet worden sei. In diesem Streit spitze sich die Frage nach dem Präsentwerden Gottes in der Person Jesu Christi in die für die weitere theologische und philosophische Entwicklung produktive Frage zu, ob Präsenz durch Aktivität zu bestimmen sei oder ob sich Präsenz auch als reine Anwesenheit unter Verzicht auf Tätigkeit und Macht denken lasse.

Zum Abschluss warf HENRY KEAZOR (Heidelberg) noch einen Blick auf Absenz und Präsenthaltung als Motive der Bildenden Kunst. Kunst sei, so Keazor, gerade prädestiniert, Präsenzen zu erzeugen und in verschiedenster Weise abzubilden. Es läge daher intuitiv zunächst fern, über Absenz, die scheinbar nur eine einzige Form kenne, nachzudenken. So betonte der Kunsthistoriker an einem Beispiel die Genese der Bildenden Kunst als Gegenstrategie in Bezug auf die Absenz: Weil ihr Geliebter verreisen musste, soll die mythische Tochter des Töpfers Butades seinen Schattenriss nachgezeichnet haben – aus der Malerei sei dann wiederum eine Skulptur zur Präsenthaltung entstanden. Besondere Raffinesse zeige sich dort, wo etwas scheinbar Abwesendes erst auf den zweiten Blick tatsächlich präsent sei, wie etwa Cornelis Norbertus Gijsbrechts‘ (17. Jahrhundert) täuschendechtes Gemälde von der Rückwand eines Gemäldes. Auch die Präsenz der Künstler:in selbst könne, als Oppositionsbewegung gegenüber einer Entwicklung in der Kunst auf das rein Konzeptuelle ausgerichtet, zum Gegenstand werden. Als Beispiel nannte Keazor die mehrmonatige Performance The Artist is Present (2010), bei der die Künstlerin Marina Abramović täglich mehrere Stunden selbst zum Objekt der Betrachtung wurde. Diese und zahlreiche weitere Darstellungen Keazors hielten eine maßgebliche Erkenntnis fest: Präsenthaltung in der Bildenden Kunst habe meist auch zum Ziel, mit Hilfe des Materiellen etwas Immaterielles zu erhalten oder zu evozieren, was beim Betrachter die Erfahrung eines „sense of presence, an isolated time“ hervorrufe.

In einer angeregten Diskussion über die Produktivität von Absenz und ihrer eigenen inhärenten Präsenthaltung – da sie nicht umkehrbar sei, ohne aus der kollektiven Erinnerung zu verschwinden und damit ihre zentralen Charakteristika als bewusste Leerstelle einer erwarteten Präsenz zu verlieren – kam die Tagung zu einem stimmigen Ende. Alle Teilnehmer:innen waren sich einig, dass das Tagungsthema eine besondere Vielschichtigkeit und Anwendbarkeit auf unterschiedlichste Disziplinen der Forschung bereithalte. Durch die vielfältigen Vorträge und Diskussionsbeiträge wurden neue Impulse für die weiterführende, interdisziplinäre Forschung des neuen Begriffspaars „Absenz und Präsenthaltung“ in der Erforschung von Präsenz und Repräsentanz gesetzt.

Konferenzübersicht

Romedio Schmitz-Esser / Friederike Nüssel (Heidelberg): Einführung

Romedio Schmitz-Esser (Heidelberg): Die Präsenthaltung und das Problem der Absenz des Herrschers in einer ritualisierten Gesellschaft

Tobias Frese (Heidelberg): „Non esthic“ –Absenz und Präsenz Christi in den Kanonbildern des Sakramentars Heinrichs II.

Jörg Peltzer (Heidelberg): Richard von Cornwall und die vielen Formen der Stellvertretung

Michael Brauer (Salzburg): Präsenz als Governance-Instrument bei Karl V. von Frankreich

Nikolas Jaspert (Heidelberg): Das Heilige Land zu Hause: Die palästinensischen Orden im mittelalterlichen Lateineuropa

Alicia Lohmann (Heidelberg): Wer nicht wagt, der nicht gewinnt: Absenz als Chance begreifen – die Jerusalemfahrt Friedrichs V. (III.)

Anja Rathmann-Lutz (Basel): „… l’estatdu royaumene fistqueempirer“ –Jean de Joinville und die Absenz des Königs

Friederike Nüssel (Heidelberg): Präsenz und Absenz in der theologischen Diskussion der europäischen Vormoderne

Henry Keazor (Heidelberg): „(…) a sense ofpresence, anisolated time“. Ab-und Anwesenheit als implizites Motiv Bildender Kunst


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